Offenhalten

Der Tag der Vermählung rückte näher, und die junge Braut wurde zusehends unruhiger. „Du musst mal raus an die frische Luft, damit du auf andere Gedanken kommst. Lass uns einen Abendsparziergang am Strand machen. Der wird dir bestimmt gut tun!“, forderte ihre Mutter sie auf.

Schweigend gingen die beiden Frauen nebeneinander her, und als sie zum Strand kamen, blieben sie stehen und schauten der Sonne zu, die inmitten eines grandiosen Wolkenpanoramas im Meer versank.

„Magst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?“, fragte leise die Mutter. Noch zögernd und nach Worten suchend murmelte die Tochter: „Ich habe plötzlich Angst vor der Zukunft. Wird unsere Liebe für ein ganzes Leben ausreichen? Muss ich nicht noch mehr lieben, um alle Sorgen und Konflikte an der Seite meines Mannes bestehen zu können? Papa und du, ihr seid doch glücklich miteinander, und ihr habt es ja auch nicht leicht gehabt. Wie kann ich die Liebe in meiner Ehe so viele Jahre lang bewahren? Wie habt ihr beide das gemacht?“

Statt eine Antwort zu geben, bückte sich die Mutter und nahm Sand in beide Hände. Die rechte Hand umschloss den Sand ganz fest, und er begann, aus ihrer geschlossenen Faust zu rieseln. Je mehr sie zudrückte, desto stärker entwich der Sand seiner Umklammerung. Dann öffnete sie die Hand, in der nur noch wenige Sandkörner lagen, und auf ihrer Haut zeigten sich die Abdrücke des Sandes wie Hunderte kleiner Narben.

Die andere Hand aber hatte sie gehalten wie eine Schale. Und auch als sie diese Hand hin und her, auf und nieder bewegte, ruhte leuchtend und golden der Sand in ihrer offenen Hand.

Lächelnd sahen die beiden Frauen sich an und gingen Arm in Arm nach Hause.

— Norbert Lechleitner (Oasen für die Seele)