Der Wille Gottes

Jedes Geschehnis ist ein Sakrament des Willens Gottes. Wie der Leib Christi in Brot und Wein verborgen ist, so ist der Wille Gottes in den alltäglichen Begebenheiten verborgen.
Alle historischen Ereignisse sind so heilig wie die Heilige Schrift, weil sie gleichfalls ein Ausdruck des Willens Gottes sind. Und die bescheidenste Begebenheit des Alltags ist ein Ausdruck des Willens Gottes und darum genauso wichtig wie das wichtigste historische Ereignis. Das Verpassen eines Zuges ist genauso wichtig wie das Verlieren der Schlacht von Waterloo.
Darum gibt es nichts Banales und nichts Unbedeutendes auf der Welt (»Alle Haare auf eurem Kopfe sind gezählt.«) Der unbedeutendste Zwischenfall kann die ganze Weltgeschichte verändern. Ein fallender Dachziegel verursachte den Tod eines spanischen Königs, und der kleine Zeitungsjunge von heute kann morgen die Titelseiten aller Zeitungen der Welt füllen. Auch andere noch so winzige Vorkommnisse haben irgendwie den Lauf der Welt beeinflusst, obwohl wir nie etwas davon gehört haben. Und genauso wichtig ist das Leben jedes einzelnen Menschen, auch wenn keine Zeitung je etwas über ihn berichtet.
Unser tägliches kleines Leben ist voller Wunder und Geheimnis. Es ist wie eine Weiterführung der verborgenen Jahre Jesu in Nazareth, die nie in den Evangelien beschrieben wurden.

Obwohl diese Jahre wie auch alle anderen unbekannten Taten Jesu nie aufgezeichnet wurden, haben sie darum doch nicht weniger Bedeutung.
Die Heilige Schrift ist nichts weiter als ein Fragment – erleuchtet vom Heiligen Geist – der Weltgeschichte, des Eingreifens Gottes in den Lauf der Welt. Alle Geschichte ist heilig, und heilig sind auch die Ereignisse unseres Privatlebens. Die Bibel, von der Genesis bis zur Apokalypse, ist nur ein beleuchteter Ausschnitt aller menschlichen Geschehnisse vom Anfang bis zum Ende der Welt, vom ersten Morgen bis zum letzten. Der Rest der Geschichte unserer Welt und auch anderer, vielleicht bewohnter Welten blieb im Dunkeln, ist ein unleserlicher Text. Darum ist der Wille Gottes aber nicht weniger gegenwärtig in ihm.
Dieser Text der Weltgeschichte kann allerdings vom Menschen verändert und verfälscht werden, und das ist auch in reichlichem Maße geschehen, von der ersten Sünde an. Die Heilige Schrift ist auch die Geschichte des dauernd unterbrochenen Willens Gottes durch den Menschen. Gott hat beschlossen, Israel ins Gelobte Land zu führen. Als das Volk sich auflehnt und nach Ägypten zurückkehren will, ändert Gott seine Pläne und beschließt, es auszurotten und für Moses ein neues Volk zu schaffen. Moses bittet Gott für das Volk Israel und bewirkt, dass Gott erneut Seine Meinung ändert, er rottet es nicht aus, lässt es aber auch nicht ins Gelobte Land gelangen, wie Er zuerst vorgehabt hatte. »Ihr sollt nicht in das Land eingehen, das ich euch mit zum Schwur erhobener Hand versprochen habe.«
Der Wille Gottes ist ein unheimlich kompliziertes Gewebe, das immer wieder durch den freien Willen des Menschen durchkreuzt wird, das aber darum doch nie reißt. Jeden Augenblick ändert Gott Seinen Willen, je nachdem, wie sich die Umstände durch das Dazwischentreten des Menschen wandeln.
In jedem einzelnen Fall beachtet Gott aber auch die unendlichen Wirkungen, die eine Abänderung Seines Willens für alle anderen Fälle und Umstände des Universums zur Folge haben könnte. Wenn ich um Regen für meine Ernte oder um Schönwetter für eine Verabredung bitte, denke ich nur an die Vorteile, die das Regnen oder Nichtregnen für mich hat. Gott denkt aber gleichzeitig an alle Wirkungen und Folgen der Wirkungen, die das Regnen oder Nichtregnen auf die ganze Welt hat. Der Wille Gottes ist die Koordinierung aller dieser Wirkungen, die Er mit unendlicher Weisheit und unendlicher Liebe kombiniert. Darum sollen wir mit Freuden alles annehmen, was geschieht, so widrig es im Augenblick auch sein mag, weil alles zu unserem besten geschieht, weil es uns zuträglich.
Das einzige, was uns nicht zuträglich ist, ist die Sünde. Allein die Sünde hängt ausschließlich von uns ab und nicht vom Willen Gottes. Der Sünde verwirrt den Willen Gottes, sie ist das einzige Gegensätzliche zu ihm.
Aber alles, was nicht von unserem Willen abhängt, ist der Wille Gottes. Sogar die Wirkungen und Ergebnisse der Sünde sind Gottes Wille. Nur die Sünde selbst hängt von uns ab, die Wirkungen und Konsequenzen unserer Sünden und der Sünden anderer unterliegen dem Willen Gottes. Die innere Zustimmung eines Menschen, der auf einen anderen Menschen schießt, hängt von diesem Menschen selbst ab. Ob der Revolver aber geladen war und welchen Lauf die Kugel nimmt, ob sie trifft oder nicht und alle anderen Umstände, ist Sache Gottes. Darum sollen wir alles segnen, was geschieht, denn alles, sogar die Konsequenzen der Sünde, ist der Wille Gottes. Von uns hängt einzig und allein die Zustimmung zur Sünde ab. Manchmal wollen wir den Willen Gottes nicht erkennen, weil er verkleidet unter schrecklichen Aspekten auftritt. Die Juden wollten ihren König nicht anerkennen, als er ihnen mit Dornen gekrönt vorgeführt wurde; da zogen sie lieber die Diktatur des Tiberius vor. »Wir haben keinen anderen König als den Kaiser.« (Der Kaiser würde sie später niederdrücken, während Christus ihr Befreier war.) Der Wille Gottes zeigt sich uns oft versteckt unter Misserfolg, Elend, Einsamkeit und Tod. Dann wählen wir lieber den Tiberius, den Vertreter der Macht, der Vergnügungen, des Geldes und der Sinnlichkeit, der Grausamkeit und des Sieges. Dann rufen wir: »Kreuzigt ihn, wir haben keinen anderen König als den Kaiser.«
Der Wille Gottes kann verkleidet als Krebs zu uns kommen, als Verkehrsunfall oder als Geheimpolizei eines totalitären Regimes, um uns eines Nachts zu verhaften. Und es ist schwer, ihn unter dieser Aufmachung zu erkennen und zu segnen. Aber alles, was wir Wirklichkeit nennen, ist die Fleischwerdung des Wortes Gottes, ist das Wollen Gottes. Alle Wirklichkeit ist heilig. Ein flüchtiges Treffen auf der Straße, ein verpasster Zug oder ein rechtzeitig erreichtes Flugzeug, alles sind Verwirklichungen des Willens Gottes.
Gott ist nicht nur in den äußeren Zeichen der Sakramente gegenwärtig, sondern in gewisser Form in allem Wein und in allem Weizen, in allem Wasser und in allem 0 1, in der ganzen Realität der Welt. In aller Wirklichkeit ist Gott verborgen, stumm und demütig. Alle Wirklichkeit ist Sakrament.
Wir wissen nicht, was uns gut tut, darum dürfen wir nichts wollen und nichts nicht wollen, sondern nur das annehmen, was Gott für uns will oder nicht will, weil nur Er weiß, was uns not tut.
Wir sind umgeben von Ereignissen, die wir nicht verstehen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie führen, wie ein Blinder im Verkehrsgewühl. Wir sind wie ein Kind auf einem großen Flughafen voller Flugzeuge, die kommen und gehen. Wir können in keins von ihnen einsteigen, weil wir ihre Route nicht kennen. Wir kennen nicht einmal unser eigenes Ziel, wir können nur warten, bis jemand kommt und uns zeigt, in welches wir einsteigen müssen. So kennen wir auch unser Schicksal nicht und wissen nicht, welche Ereignisse unseres Lebens gut und welche schlecht für uns sind Wir kennen unsere Zukunft nicht, und auch unsere Gegenwart und unsere Vergangenheit ist uns nur bruchstückhaft bekannt.
Die Sünde ist der Glaube, wir wüssten besser als Gott, was gut für uns ist, die Annahme, Gott hätte sich in dem einen oder anderen Fall in Bezug auf uns geirrt.
Gott weiß, was uns zuträglich ist, weil alles, was geschieht und noch geschehen wird, in seinem Geiste seit aller Ewigkeit schon geschehen ist, wie ein Foto, das schon vor einiger Zeit aufgenommen wurde und das wir nun beim Entwickeln des Films in der Dunkelkammer zum ersten Mal sehen. Oder wie ein Film, der seinerzeit gedreht wurde und den wir nun auf der Leinwand projiziert sehen. Oder wie das Licht eines Sterns, das vor Millionen von Jahren ausgesandt wurde, das aber erst jetzt auf unsere Netzhaut gelangt.
Gott weiß, dass Dinge, die heute schlecht für mich sind, morgen vielleicht gut für mich sein können. Und Gott kann heute etwas wollen, was Er später nicht mehr will. Er kann hier etwas beabsichtigen, was Er an einem anderen Ort nicht will, oder mit mir etwas vorhaben, was Er mit einem anderen Menschen nicht vorhat.
Als die Jungfrau von Orleans in ihrem Prozess gefragt wurde, ob Gott auch die Engländer liebe, antwortete sie:
»Gott liebt die Engländer nicht in Frankreich.« Das ist das Mysterium unserer Berufung. Gott liebt auch einen Diktator von Nicaragua, aber Er liebt ihn nicht als Diktator von Nicaragua.

— Ernesto Cardenal (Das Buch von der Liebe, S. 115)