Der Lockruf der Freude

Das Schwere, die Trübsal kommt von ganz alleine, die Freude aber muss man suchen. Was uns das Leben schwer macht: Krankheit, Schwäche, Missgeschick und Misserfolg, Enttäuschung und Verlust, Schwermut und Resignation, Kleinmut und Verzagtheit, alles das kommt von alleine; ungefragt und ungesucht tritt es in unser Leben ein, und wir können es nicht verhindern. Es gibt auch da offenbar so etwas wie die Schwerkraft: Was fällt, das fällt, und es fällt immer nach unten, von ganz alleine, wie wir sagen.
Anders die Freude. Sie ist zwar allgegenwärtig in unserem Leben, aber sie versteckt sich gerne, und sie kann sich verdammt gut verstecken. Sie lässt ihren Lockruf ertönen und zieht sich im selben Moment in irgendein Gestrüpp zurück, als wollte sie mich necken, als riefe sie mir zu: »Such mich doch, such mich doch!« Nein, in der Regel liegt die Freude nicht auf der Straße. Es gibt sie nicht im Sonderangebot, auf Ramschtischen und im Billigkaufhaus. Es gibt sie auch nicht im teuren Luxusladen, mit Geld ist sie nicht zu bezahlen. Sie hat auch keine Homepage, wo sie der Computerfreak jederzeit zur Verfügung hat, und genauso wenig gibt es einen Kanal, auf dem der Zapper-Philipp sie mit der Fernbedienung in der Hand erwischen kann. Wo ich sie mit Sicherheit zu treffen meine, ist sie gerade weggegangen, und wo ich sie am wenigsten vermute, ausgerechnet da wartet sie auf mich. Zum Greifen nahe ist sie, bei mir, in mir, über mir, unter mir, vor mir, hinter mir, rechter Hand, linker Hand, und lässt sich doch nicht greifen und begreifen! Und wenn es in Zeiten schwersten Unglücks und tiefster Traurigkeit so scheint, als habe sich die Freude endgültig verflüchtigt, dann ist sie doch präsent, ein Tröpfchen vielleicht im Meer der Traurigkeit, und plötzlich hörst du wieder ihren Lockruf, diese Ermunterung, die nie ein Ende nimmt, ganz leise vielleicht, aber herzlich und dringlich, freundlich einladend. Ja, du bist zur Freude geboren und nicht zu Missmut und Frust. Immer und überall wartet die Freude auf uns, zu ihrem Werben aber gehört immer die einfache Aufforderung, die dem, der die Sprache der Bibel ein wenig kennt, so vertraut ist: »Mach dich auf!«

— Reinhard Deichgräber (Aschenbahn und Himmelreich, S. 60)