Vorlesung bei Karstadt

ZUM ERSTEN MAL …! Heute war Premiere. Jenny hatte in ihrem kurzen Studentinnenleben ja schon viele Jobs übernommen, aber „Engel“ war bis jetzt noch nicht dabei gewesen. Okay, sie war schon mal als Werbemöhre verkleidet durch den Supermarkt gelaufen und hatte Zettel verteilt … Das war wahrscheinlich ähnlich seltsam gewesen (besonders, als ein junger Mann zehn Minuten lang mit den Worten »Ich bin ein Häschen und will mal knabbern« hinter ihr hergelaufen war). Heute nun trug sie kein Plüschmöhrenkostüm, sondern eine blonde Perücke mit vielen Löckchen und einem glitzernden Stern darauf, ein langes weißes Wallegewand, Flügel, eine kleine Harfe, ein Körbchen und ein strahlendes Engelslächeln, und sie schwebte durch Karstadt, um den Damen kleine Pröbchen eines „himmlischen Duftes“ anzubieten und ihnen eine wunderbare Adventszeit zu wünschen. Leicht verdientes Geld, wenn auch in alberner Aufmachung, fand Jenny und war froh, dass sie bisher keine Bekannten getroffen hatte. Was sich just in diesem Augenblick änderte, denn von rechts nahte Professor Brückner (philosophische Ethik) und schien sie auch schon bemerkt zu haben, denn er stockte im Vorbeigehen, drehte sich um und kam schnurstracks auf sie zu.
Man denke an das Klischee vom verträumten und schusseligen Professor – Brückner entsprach diesem Bild in höchstem Maße, was seine Studenten und Studentinnen gleichzeitig zu freundlichem Spott und – wegen der hohen Kompetenz und der Liebenswürdigkeit Brückners – zu liebevoller Bewunderung reizte. Der Professor galt im positiven Sinne als Unikum. Er liebte sein Fach und seine Studenten, kannte auch in sehr großen Vorlesungen nach kurzer Zeit die Namen aller und war dafür bekannt, Gespräche auf seine ganz eigene Art zu gestalten.
So auch jetzt: »Frau Gerresheim, Sie sind ja ein Engel! Wie schön, jetzt in der Adventszeit habe ich mich gerade mal wieder mit unseren stillen Begleitern befasst und schon treffe ich Sie. Der Begriff „Engel – Angelos“ hat ja verschiedene Ursprünge, aber das wissen Sie ja sicher, nicht wahr? Ja, selbstverständlich! Wird es vom alt-ägyptischen Wortstamm „ang“ abgeleitet, bedeutet es „Leben“. „El“ bedeutet „Gotteslicht“. Somit wäre es als „die im göttlichen Licht Lebenden“ zu deuten. Ist das nicht wunderschön? Wenn wir es vom griechischen „angelos“ ableiten, bedeutet es „Bote, Botschafter und Gesandter des Göttlichen“. „Botschafter Gottes“ – auch diese Bedeutung ist so erhellend! Manchmal denke ich, ich hätte doch Sprachwissenschaftler werden sollen. Die ersten Engeldarstellungen finden sich übrigens schon um 2250 vor Christus in Mesopotamien, z.B. auf einem Rollsiegel des Schreibers Adda, war Ihnen das bewusst? Die Bibel beschreibt sie selbstverständlich auch, sie geht davon aus, dass Engel himmlische, mit Bewusstsein begabte Geistwesen sind; aber sie verzichtet weitgehend auf ein plastisches Ausmalen dieser Himmelswesen, die in anderen Religionen damals verbreitet war. Viel wichtiger ist ihr die Funktionen der Engel: den Menschen Gottes Wort, Gegenwart, Absicht und vollgültigen Willen mitzuteilen. Darum erscheinen Engel in der Bibel oft einfach als „Boten Gottes“ in menschlicher Gestalt. Sie sind ohne Zweifel souverän und nicht an die Schranken und Bedingungen der menschlichen Sinnenwelt gebunden. Aber diese Fähigkeiten treten meist hinter ihrer Botschaft zurück, die das zentrale Element bildet. Welche Botschaft bringen denn Sie, Frau Gerresheim?«
Vn diesem Monolog gleichzeitig geplättet und fasziniert stotterte Jenny: »Äh, also: „Angel Dreams“ ist die neue Duftkreation von Calvin Groß«, und dabei hielt sie ihm reflexartig eine ihrer Gratisduftproben entgegen. Welche der Professor auch brav nahm, öffnete und unter seine Nase hielt. »Nun«, sagte er dann lächelnd, »was heutzutage wie ein Engel scheint, bringt anscheinend eher Botschaften von Calvin Groß als von Gott. Die Dinge sind eben nicht immer das, was sie zu sein scheinen, nicht wahr, Frau Gerresheim? Da sieht jemand wie ein Engel aus und ist keiner, aber vielleicht ist Ihnen heute schon ein Engel begegnet, der nicht wie einer aussah? Vielleicht ist der Mann, der dort drüben steht, ein Engel, oder die Frau an der Kasse? Vielleicht ist ganz in der Nähe einer von Gottes Boten. Vielleicht hat er sogar eine Nachricht für Sie oder mich? Ach, ist das nicht ein wundervoller Gedanke, dass Gottes Welt sich unsichtbar um uns breitet und von seinen Boten durchschritten wird? Aber ich sehe, ich halte Sie auf, liebe Frau Gerresheim. Ich danke Ihnen für dieses angenehme Gespräch! Seltsam, wieso habe ich eigentlich dieses Fläschchen in der Hand?«
Kopfschüttelnd blickte der Professor auf die kleine Duftprobe, gab sie geistesabwesend an Jenny zurück und war schon im Gehen begriffen, als er sich plötzlich wieder zu ihr umdrehte und sagte: »Heute ist euch der Retter geboren‘, das haben die Engel in Bethlehem den Hirten verkündet. Ist das nicht eine wunderbare Botschaft? Uns ist der Retter geboren …«
Dann verschluckte ihn die Menge der Einkaufenden, und als Jenny ihn etwas entfernt kurz wieder auftauchen sah, da war es ihr fast , als umleuchtete ihn ein klares Licht.

— Karin Stoletzky